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Exkurs: Theorie und Empirie

 

Was ist eine Theorie?

Die Antwort auf diese Frage ist in der Wissenschaft keineswegs unumstritten. Wir wollen uns hier auf eine Definition von Theorie beschränken, weisen aber darauf hin, dass es durchaus divergierende Positionen hierzu gibt.

In den Sozialwissenschaften geht es allgemein darum, Regelmäßigkeiten in der sozialen Realität aufzuzeigen und zu erklären. Sie grenzen sich damit in ihrem Erkenntnisinteresse etwa von der Geschichtswissenschaft ab, die sich auf die Erklärung eines Einzelfalls konzentriert. Ein historisches Werk beschäftigt sich beispielsweise mit der "Geschichte des Vietnamkriegs" (Marc Frey 2002), wohingegen Politikwissenschaftler etwa nach Kriegsursachen im Allgemeinen fragen.

Die Theorie liefert das Instrumentarium, mit dessen Hilfe man von der Detailfülle der komplexen sozialen Welt abstrahieren kann. Diese Abstraktion ist notwendig, um Regelmäßigkeiten überhaupt auszumachen bzw. plausibel erklären zu können.
Damit geht die so genannte Selektionsfunktion und (damit eng verbunden) die Ordnungsfunktion von Theorie einher, die darin besteht, wichtige von unwichtigen Informationen zu trennen bzw. diese systematisch zu ordnen.


Wie ist eine Theorie aufgebaut?
    
Eine Theorie besteht zunächst aus einer Reihe von theoretischen (nicht notwendigerweise den Fakten entsprechenden) Grund- und Nebenannahmen. Diese werden nicht aufgrund ihrer Realitätsnähe beurteilt, sondern nach ihrer Erklärungskraft im Rahmen der Theorie. Tatsächlich kann ein relativ hohes Maß an Abstraktion von der Realität vorteilhaft sein, um Erklärungskraft zu erhalten (Bsp.: Grundannahme des rational handelnden Akteurs). Je nach Erkenntnisinteresse sind jedoch variierende Abstraktionsgrade denkbar.
Die Grund- und Nebenannahmen bilden den Rahmen des theoretischen Modells.

-> Weiterführende Literatur zur Funktion von Annahmen:
Friedman, Milton (1953): "The Methodology of Positive Economics" in: Friedman, Milton, Essays in Positive Economics, Chicago: University of Chicago Press, S. 3-43.

Die Grund- und Nebenannahmen bilden die Grundlage für die Entwicklung möglichst genau definierter Konzepte und Variablen. Variablen zeichnen sich dadurch aus, dass sie unterschiedliche Werte annehmen können. Die zentrale Aufgabe besteht darin, zwischen den Variablen Kausalzusammenhänge herzustellen. Hierbei handelt es sich um die Erklärungsfunktion von Theorie.

Nehmen wir als Beispiel eine Außenpolitiktheorie, nämlich den utilitaristischen Liberalismus.
(-> Literaturtipp: Freund, Corinna/ Rittberger, Volker (2001): "Utilitarian-liberal Foreign Policy Theory", in: Rittberger, Volker (Ed.), German Foreign Policy Since Unification: Theories and Case Studies, Manchester: Manchester University Press, S. 68-104.).

Grundannahmen sind: (1) Die Außenpolitik wird insbesondere durch mächtige Interessengruppen innerhalb eines Landes bestimmt. (2) Die Regierung nimmt lediglich die Funktion eines Transmissionsriemens ein, d.h. sie "übersetzt" nur die durchsetzungsfähigsten Partikularinteressen in außenpolitisches Handeln. (3) Die jeweiligen Akteure handeln rational nach Kosten-Nutzen-Kalkülen.
Die Interessen der mächtigen und gut organisierten Gruppierungen bestimmen und erklären damit als unabhängige Variable die konkrete Außenpolitik eines Landes als abhängige Variable. Es besteht ein Kausalzusammenhang zwischen unabhängiger und abhängiger Variable.

Sofern die Theorie einen kohärenten und logisch nachvollziehbaren Aufbau aufweist, können nun Hypothesen (empirisch überprüfbare Annahmen) über Sachverhalte in der Vergangenheit, Gegenwart oder (prognostizierten) Zukunft hergeleitet werden.
Auf unser Beispiel bezogen könnte man folgende Hypothese entwickeln: Wenn die Interessen der gut organisierten Wirtschaftslobby auf hohe Zölle hinauslaufen, wird dies zu einer protektionistischen Zollpolitik führen.

Dies leitet über zur nächsten Frage:     

 


Was ist Empirie?     
      
Empirie ist all das, was wir in der Realität beobachten können.
Zum Beispiel: Welche Entscheidungen trifft ein Akteur zu einem gegebenen Zeitpunkt? Wie reagieren andere Akteure auf diese Entscheidungen? Über welche Fähigkeiten und Ressourcen verfügt ein Akteur?
Die Aufgabe der Politikwissenschaft besteht darin, die beobachtbare Realität zu verstehen und zu erklären.
Was hat aber Theorie damit zu tun? Wie können wir eine Verbindung zwischen Theorie und Empirie herstellen?

Die Antworten auf diese Fragen lassen sich aus der eben gelieferten Definition von Theorie ableiten: die Theorie besteht aus einem abstrakten Erklärungsmodell für einen bestimmten Ausschnitt der Realität. Die aus der Theorie entwickelten Hypothesen stellen schließlich die Verbindung von Theorie und Empirie her.     
Um diese Hypothesen anwenden zu können, müssen die Begriffe der Theorie (Konzepte, Variablen) zunächst operationalisiert werden.
"Unter Operationalisierung versteht man die (möglichst genaue) Angabe der Vorgehensweise (eben der "Operationen"), mit der ein Merkmal erhoben werden soll." (ILMES - Internet-Lexikon der Methoden der empirischen Sozialforschung). So wird die Theorie als Handwerkszeug nutzbar gemacht.
Auf unser Beispiel bezogen bedeutet dies beispielsweise: Wie soll die Macht der unterschiedlichen Interessengruppen gemessen werden? (Beispiel für einen Indikator: Anzahl der Vertreter einer spezifischen Interessengruppe, die gleichzeitig in relevanten Beratungsgremien bzw. Ausschüssen sitzen.)
Schließlich kommt die Empirie selbst ins Spiel. Die Hypothese kann nach erfolgter Operationalisierung anhand empirischer Beobachtungen oder Daten überprüft werden. Das theoretische Modell wird also auf die beobachtbaren Phänomene angewandt.     
Die Auswahl der empirischen Fälle muss gut begründet werden. Man muss genau darlegen, wieso man einen oder mehrere Sachverhalte für die Überprüfung der Hypothese anhand der Theorie für geeignet hält.     
      
Fragen der Methodik, wie Fallauswahl, Operationalisierung etc., können an dieser Stelle nicht genauer behandelt werden.Wir möchten daher auf einige Standardwerke verweisen:

Literatur zur Methodik:
-> Atteslander, Peter (19937): Methoden der empirischen Sozialforschung, Berlin et al: De Gruyter. (Forschungsinstitut 1410/16)
-> King, Gary/ Keohane, Robert O./ Verba, Sidney (1994): Designing Social Inquiry: Scientific Inference in Qualitative Research, Princeton: Princeton University Press. (Forschungsinstitut 1411/58)
-> Van Evera, Stephen (1994): Guide to Methods for Students of Political Science, Ihaca, NY: Cornell University Press. (Kopiervorlage beim Lehrstuhl Zimmer 7)
-> Von Alemann, Ulrich (Hrsg.) (1995): Politikwissenschaftliche Methoden: Grundriß für Studium und Forschung, Opladen: Westdeutscher Verlag. (Forschungsinstitut 1410/33)

Aus den eben dargestellten Merkmalen von Theorie und Empirie lassen sich die drei grundsätzlichen Funktionen einer Theorie ableiten:     

  • Selektionsfunktion: Die soziale Realität zeichnet sich durch eine enorme Komplexität von Akteuren, Strukturen etc. aus. Da es für einen Menschen nicht möglich ist, sämtliche Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten, müssen die Informationen begründet selektiert werden: Wichtiges muss von Unwichtigem getrennt werden. Die Theorie filtert die relevanten Informationen aus der Realität aus und lässt die Irrelevanten außer Acht.     

  • Ordnungsfunktion: Die so selektierten Informationen müssen nun zusammengefügt, geordnet und systematisch dargestellt werden. Die als relevant betrachteten Phänomene werden gruppiert, gegliedert, in Kategorien und Subkategorien zusammengefasst. Dabei wird Wichtiges als primär und weniger Wichtiges als sekundär markiert.     

  • Erklärungsfunktion: Schließlich muss die Theorie zwischen den gefilterten und systematisch geordneten Informationen Kausalzusammenhänge aufzeigen.  

-> Weiterführende Literatur zu den Funktionen von Theorie:
Frei, Daniel (1973): "Einführung: Wozu Theorien der Internationalen Politik", in: Frei, Daniel (Hrsg.), Theorien der Internationalen Beziehungen, München: Pieper, S. 11-21. (im Reader zur Grundzügevorlesung Prof. Jäger, Teil I)

Aus den dargestellten Theoriefunktionen wird bereits deutlich, dass in der Regel keine Hausarbeit ohne einen Theorieteil auskommt. Wie unter Punkt A. Definition bereits festgestellt, gilt dasselbe für den Empirieteil. Es sind nun aber unterschiedliche Verhältnisse von Theorie und Empirie denkbar. Dieses Verhältnis hängt von Ihrem Erkenntnisinteresse ab:     

  • Schwerpunkt des Erkenntnisinteresses liegt auf der Empirie:
    Beginnt man mit einem so genannten "real world"-Problem, dass man wissenschaftlich erklären möchte (z.B.: Wieso lehnen die USA eine Beteiligung am Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte in Den Haag ab?), sollte man sich eine geeignete Theorie suchen, anhand derer man das Problem behandeln kann. Es ist entscheidend, die Theorie als Handwerkszeug so nutzbar zu machen (nämlich zu operationalisieren), dass man das gestellte Puzzle lösen kann. Die Theorie muss also so weit (und nur so weit) dargelegt werden, wie dies zur Bearbeitung des Problems erforderlich ist, und sie muss so konkretisiert, handhabbar gemacht und angepasst werden, dass sie im empirischen Teil angewendet werden kann.      

  • Schwerpunkt des Erkenntnisinteresses liegt auf der Theorie:
    Ein anderer Fall liegt vor, wenn man sich für eine oder mehrere Theorie(n) und deren Erklärungskraft interessiert. Dies erfordert nun eine genaue und ausführliche Auseinandersetzung mit den behandelten Theorien bzw. deren Kritik. Anschließend werden die theoretisch hergeleiteten Hypothesen anhand von geeigneten empirischen Fällen auf ihre Plausibilität überprüft. Dies lässt wiederum Rückschlüsse auf die Erklärungskraft der Theorie zu. Der Schwerpunkt des Erkenntnisinteresses liegt zwar auf der Theorie, dennoch ist die Operationalisierung der Theorie auch in diesem Fall zentral, um die Überprüfung der Hypothesen durchführen zu können.